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„Polemiken“ rund um das Jahr 1992 • Negativbilder heute und früher
• Der Besitz des Paradieses • Die Tabuisierung der Überlieferung


Einleitung

Ein anonymes Dokument in einer spanischen Bibliothek hatte mich 1985 erstmals auf die Spur eines anderen, heute weitgehend unbekannten Christoph Kolumbus gebracht. Es handelte sich um ein älteres Vortragsmanuskript, in welchem die Chronisten des 15. Jahrhunderts zitiert und mit den entsprechenden Aussagen des Kolumbussohnes Hernando Colón verglichen wurden. In der Folge suchte ich in Archiven und Bibliotheken nach weiteren „Puzzlestücken“, sichtete Quellen und begann, mich kritisch mit der Geschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts zu beschäftigen.

Immer deutlicher wurde mir bewusst, wie spätere Epochen – von der Aufklärung über den Nationalismus bis hin zur Gegenwart – die Biographie des Kolumbus bestimmt hatten. Im Laufe der historischen Rezeption waren verschiedene Aspekte, unter anderem die früheren Lebensjahre des Kolumbus, tabuisiert worden: Zu chaotisch erschienen der Nachwelt die spätmittelalterlichen Kriegswirren im damaligen Europa, zu abwegig und zu bizarr aber auch die ureigensten religiösen Vorstellungen des Genueser Seefahrers.


„Polemiken“ rund um das Jahr 1992

The author of the anonymous speech manuscript I mentioned was most likely the noted Madrilenian historian, Antonio Rumeu de Armas. As a recognised expert on the subject, he would have been able to revise the image of the discoverer in the late 20th century. Instead, he warned expressly against the research of the earlier years of Columbus’ biography and claimed years later (1991) that this part of his life must be considered as an “insoluble mystery”. He argued that some of the sources would subsequently lead to “polemics” (Rumeu 1991, S. 17). But what sorts of polemics did he mean, and how is it possible that the statements of chroniclers are found threatening in our own age?


The position of Rumeu de Armas is understandable, if one considers the political background in Spain before the 500th centenary of the discovery of the Americas (1992). In those days, a moderate view of the past was advisable, at least out of consideration for the descendants of the famous discoverer still living in Madrid. The family Colón had lost through attempted murder two descendants with the (symbolic) name Cristóbal Colón: the first in 1936 during the Spanish civil war, the second in February 1986, during a NATO-summit in Madrid. The latter victim was vice admiral of the Spanish fleet and titular duke of Panama. A few months before the attempt he had joined the committee for the preparation of the 500 year anniversary ceremony as its president - and became the goal of anti-imperialistic aggression. In the context of this attempted murder, it is understandable that the historian had to black out all details of Columbus life that could be interpreted negatively. The Basque E.T.A. was officially accused of having committed the assassination in 1986, but the crime could also have been committed by the secret service of Panama. Manuel Noriega, military dictator at the time, tangled with the Spanish aristocracy in Panama (to whom the Colón family belonged); he was on the payroll of the U.S. during the Iran-Contra-Affair but also in touch with Cuba, as well as with the Columbian guerrillas.

Protest-Graffiti 1992, Baskenland:
„Kann ein Genozid gefeiert werden? Nein zur 500-Jahr-Feier“

Negativbilder heute und früher

Wie erwähnt, wurde Christoph Kolumbus und seine Entdeckung Amerikas im Laufe der Zeit höchst unterschiedlich eingeschätzt – je nach Zeitgeist und vorherrschender Ideologie. Jahrhunderte lang zum unantastbaren Helden emporstilisiert, kam es 1992 zu einer radikalen Trendwende: Er trage, so kritisierten US-Historiker, an der Vernichtung der Ureinwohner Schuld und habe den Genozid von Millionen von Indios zu verantworten.
Jahrhunderte alte Bilder über das brutale Vorgehen der spanischen Konquistadoren spielten dabei eine entscheidende Rolle. Diese gehen auf den Dominikaner Bartolomé de Las Casas (ca. 1474–1566) zurück, der in seinem „Kurzbericht über die Verwüstung Westindiens“ (Brévissima relación de la destrucción de las Indias occidentales) die Spanier als „Tyrannen“, „grausamste Wölfe“ sowie als „Tiger und Löwen“ bezeichnet, die „unzählige Grausamkeiten“ gegenüber den Indios verübt hatten. Sein Kurzbericht erschien 1552 im Druck und wurde später in den besetzten Niederlanden und in den protestantischen Gebieten Europas zu einem wirksamen Propagandainstrument gegen das expandierende „Reich der nie untergehenden Sonne“ Philipps II. und seiner Nachfolger. Spanische Historiker sprechen noch heute von einer schwarzen Legende (leyenda negra), ausgelöst durch den Dominikaner.


Portrait von Bartolomé de Las Casas,
B.N. Paris

Im Jahre 2006, als sich der Todestag des Christoph Kolumbus zum 500. Mal jährte, taten sich Journalisten mit einer nüchternen Einschätzung des Entdeckers schwer. Sie fragten nach, ob Kolumbus nun „ein Böser“ gewesen sei, einer, der Indianer abgeschlachtet und versklavt habe, oder „ein Guter“, einer, der diesen eher wohlgesinnt gewesen sei. Bartolomé de Las Casas selbst hatte in Bezug auf Kolumbus kaum Negatives zu berichten. Obwohl der Mönch die Eroberung (Conquista) von allem Anfang an grundlegend kritisierte, beschrieb er den Genueser Entdecker als den integersten aller Gouverneure, ja er bezeichnete ihn sogar als einen Propheten, der von Gott für die Regierung in Übersee auserwählt gewesen sei! Las Casas, dessen Vater bereits mit Kolumbus gereist war, kopierte später das Bordbuch Kolumbus’ zur ersten Reise. Dabei sah ersich durch die Aussagen des „alten Admirals“ in seiner eigenen, positiven Stilisierung der Indios bestätigt; Kolumbus glaubte, dass es sich bei den Einheimischen um die Untertanen des Grossen Khans handele, der die Ostchristen einst wohlwollend in sein Reich aufgenommen hatte.


Frontspiz „Brévissima relación…“ (1552)

In den Reiseberichten des Genueser Seefahrers ist auch ein grosses Misstrauen des Kolumbus gegenüber seinen Mitreisenden spürbar. Sie waren die Untertanen des katholischen Königs Ferdinands II. von Aragon (1452–1516), den Niccolò Machiavelli (1469–1527) wegen seiner Skrupellosigkeit zum Vorbild für seinen „il principe“ genommen hatte. Vor allem hatte Kolumbus gemäss der „Kolumbinischen Tradition“ einst im Krieg gegen seinen späteren Auftraggeber gestanden.



Ferdinand II. von Aragon, Kunsthist. Museum, Wien

Der Besitz des Paradieses

Im Jahre 1493, nach Kolumbus’ Rückkehr von der ersten Entdeckungsfahrt, kam es zu einer unvorstellbaren Aufbruchstimmung in Europa. Berichte vom mildem Klima, der üppigen Vegetation und den friedfertigen Einwohnern beflügelten die Phantasie der von Krieg und Misswirtschaft gebeutelten Zeitgenossen. Kolumbus war seit seiner dritten Reise davon überzeugt, das irdische Paradies entdeckt zu haben – gemäss mittelalterlicher Weltauffassung musste es sich im äussersten Osten befinden. Der Genueser Seefahrer sprach überdies von den sagenhaften Goldschätzen des biblischen Königs Salomo und erinnerte daran, dass gemäss der Überlieferung im irdischen Paradies Enoch und Elias darauf warteten, befreit zu werden; angesichts der Endzeit sollten diese sich (bald) im Kampf gegen den Antichristen bewähren. Kein Zweifel: Der ausländische Seefahrer verlieh seiner Entdeckungsfahrt den Stellenwert einer neuen Offenbarung. Wer aber war dazu auserwählt, in Übersee zu herrschen, wem sollte dieses verheissungsvolle Gebiet gehören?
Las Casas bezog in dieser Frage Stellung: Er verwies auf den Kronvertrag von Santa Fé (1492), in welchem die weitreichenden Privilegien für Kolumbus und seine Nachkommen festgehalten waren: die Gouverneursrechte, die Admirals- und Vizekönigstitel sowie das Recht auf finanzielle Beteiligung der Familie Colón.


Alexander VI.(Borgia), Fresko von Pinturicchio, Rom, Vatikan

Durch seine Parteinahme für Kolumbus und seine Erben stellte Las Casas aber das rigorose Vorgehen von Papst Alexander VI. (Roderigo Borgia) in Frage. Dieser hatte den Kronvertrag von Santa Fé (1492) für ungültig erklärt und das neue, unbekannte Gebiet bereits 1493 seinem Landsmann Ferdinand von Aragon als Schenkung zukommen lassen. Alexander Borgia begründete dieses Vorgehen mit seiner eigenen, uneingeschränkten Macht: Er berief sich auf imperiale Schriften aus der Kreuzzugszeit, die den Papst zur obersten (Welt-) Instanz erhoben hatten. Nach dem Tod Ferdinands von Aragon fand Las Casas Gehör bei Adrian von Utrecht, dem späteren Reformpapst Hadrian VI. (1522—23). Zudem stand er, wie bereits Kolumbus zuvor, unter dem Einfluss von Jiménez de Cisneros (siehe: Kreuzzugsmentalität). Dieser mächtige franziskanische Reformkardinal ernannte ihn 1517 zum Schutzbeauftragten bzw. zum „Anwalt der Indios“ (procurador), der für die Umsetzung seiner utopischen Projekte im vermeintlichen Indien (las Indias) ein jährliches Honorar erhielt.


Hadrian VI., Cr. Dell’ Altissimo, Uffizien, Florenz

Auch der Habsburger Kaiser Karl V. unterstützte Bartolomé de Las Casas anfänglich – er war es, der ihm 1542 den Auftrag erteilte, den oben erwähnten, folgenschweren Kurzbericht über die Missstände in Westindien zu verfassen (…). Der junge Monarch musste sich nach seinem Regierungsantritt nicht nur auf der Iberischen Halbinsel, sondern auch in Übersee durchsetzen. Ein vehementer Kritiker der dortigen Zustände konnte ihm dabei nur hilfreich sein.


Kaiser Karl V.

Die Tabuisierung der Überlieferung

Bartolomé de Las Casas hatte Spanien willentlich oder unwillentlich einen riesigen Imageschaden zugefügt. Deshalb ist es nachvollziehbar, dass sein Hauptwerk, die umfangreiche „Geschichte der Indien“ (Historia de las Indias) Jahrhunderte lang unter Verschluss blieb. Erst auf Druck der sich ablösenden Kolonie Kuba kam es in Spanien 1875 zu einer Erstausgabe. Auch die Chronik des Kolumbus-Sohnes Hernando Colón blieb anfänglich unediert. Hernando hatte seinen Bericht über das Leben und die Taten seines Vaters kurz vor seinem Tod 1539 vollendet. Das Manuskript wurde 1571 als kleinformatige, italienische Übersetzung in Venedig veröffentlicht (siehe: Hernando Colón).

Zur Zeit der Aufklärung und in den folgenden Jahren der Französischen Revolution rühmten renommierte Historiker die korrekte und transparente Arbeitsweise des humanistisch gebildeten Kolumbus-Sohnes. Diese Beurteilung blieb bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts bestehen. Danach wurde die Chronik zerpflückt und Textstellen, die dem aufkommenden spanischen oder italienischen Nationalbewusstsein widersprachen, aus der Geschichtsschreibung ausgeschieden. So beispielsweise auch die Tatsache, dass die Hafenstadt Genua ihrem erfolgreichen Sohn zeitlebens die von ihm erhoffte Unterstützung versagte.